Noch ein Nachtrag: Heinrich Heine in Samarkand

von Estella

Abendsonne.
Sie taucht den Registan in märchenhaftes Licht, die Kuppeln der Moscheen flammen auf, kantig schneiden sich die Medresen in den marineblauen Himmel, rosa leuchtet das Tigerhaus.
Vier Frauen sitzen vor diesem Schauspiel und staunen. Ich frage, ob ich die Legende von Bibi-Chanym, Timurs Lieblingsfrau, die durch eine List ihr Leben gerettet hat, erzählen soll (wegen vermeintlicher Untreue soll sie vom Minarett gestürzt werden, ihr letzter Wunsch, all ihre Lieblingskleider anziehen zu dürfen, wird ihr gewährt, und so schwebt sie in ihren Seidenkleidern sanft zur Erde).
Mittendrin merke ich, wie sich Zuhörer um uns scharen. Die jungen Männer warten das Ende der Geschichte ab, nähern sich einer nach dem anderen und fragen in tadellosem Deutsch höflich, woher wir kommen und ob es uns hier gefällt. Schnell entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch zwischen uns und den fünf usbekischen Germanistikstudenten. Wir sind beeindruckt von ihren Sprachkenntnissen, und in der deutschen Literatur kennen sie sich auch aus. Sie nennen Lessing, Goethe, Heine. Einer beginnt zu zitieren, die anderen helfen weiter, wenn er stockt: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin? Ein Märchen aus uralten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn…“ Wir Frauen fangen an zu singen, die Studenten fallen zögernd ein. Alle Achtung, sie sind textsicherer als wir! Wir helfen uns wechselseitig: sie uns mit dem Wortlaut der ersten und der dritten Strophe, wir ihnen mit der Melodie. Das ist Kulturaustausch!

P.S.: Als ich nach Sonnenuntergang bei der Ton- und Licht-Show noch einmal auf dem Registan bin, werde ich wieder von einem Germanistikstudenten angesprochen. Und dieses Mal singen wir hingebungsvoll alle drei Strophen der Loreley. Der leise Akzent gegen das Gedröhne aus den Lautsprechern tut wohl.

Estella

3 comments to Noch ein Nachtrag: Heinrich Heine in Samarkand

  1. Irene Heitz sagt:

    ein schönes erlebnis zum Mitlesen. Danke!

  2. Christine Wolf sagt:

    Heinrich Heines Loreley ist übrigens auch in Japan ein „Hit“. In Otsu setzten es unsere Gastgeberinnen nach einer Teezeremonie voraus, dass wir mit ihnen die „Loreley“,Goethes „Heideröschen“ und „Der Lindenbaum“ sangen. Gut, dass sich wenigstens drei von uns noch an den eigenen Musikunterricht erinnern konnten (gell, Adelheid, das MOZ lässt grüßen!). Ich kann mich gut in die Gefühle der deutschen Frauen und usbekischen Männer hineindenken. Schön, solche Erlebnisse zu erfahren!

  3. Michael Jung sagt:

    *seufz*
    Wenn ich die ganzen Berichte hier lese, frage ich mich, ob es die richtige Entscheidung für mich war, das Omnibuslenkrad gegen die Ausbildertätigkeit einzutauschen. Sehnsucht kommt auf…
    Dankeschön dass wir „Zuhausegebliebenen“ auf diese Weise mitreisen dürfen!

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