Nachtrag Seattle

Beitrag Ina Jander

Nachtrag zu Seattle

An unserem zweiten Samstag in Seattle waren wir im Discovery Park im äußerstem Westen der Stadt, ca. 11 Meilen nördlich von Downtown. Ein ehemaliges Militärgelände (Fort Lawton), das an die Stadt zurückgegeben wurde und seit den Siebzigern als geschütztes und gepflegtes Natur- und Naherholungsgebiet den Seattleites zur Verfügung steht. Der größte Park der Stadt, mit fast  20 km Wanderpfaden, die durch alte Baumbestände, über Wiesen, an Klippen und am Strand entlang führen. Der Park ist ein Refugium für 270 Vogelarten und wenn man Glück hat, bekommt man am Eliott Bay oder Shilshole Bay Seehunde und/oder Seelöwen zu Gesicht. Am westlichsten Ende des Parks und der Stadt überhaupt steht ein altes Lighthouse, das noch in Armeebesitz ist.  Es gibt Picknickplätze, naturkundliche Führungen und ein reichhaltiges Angebot der Natur angepaßten Aktivitäten für alle Altersgruppen.

Das „Daybreak Star Cultural Center of the United Indians of all Tribes“ hat seinen Sitz im Park und gilt als städtische Basisorganisation für alle Native Americans in the Seattle Area.

Als wir dort waren, fand ein großes Pow-Wow statt. Ob das eine ernsthafte Angelegenheit der Indianer oder eine reine Touristenattraktion war, haben wir nicht herausgefunden, der Andrang auf dem Parkplatz war enorm, uns stand der Sinn nach Grün und Abgeschiedenheit, deshalb wählten wir einen anderen Ausgangspunkt. Auf unserem Rückweg Stunden später waren aber im Wald Trommeln und Gesänge zu hören, wie wir sie aus den alten Western kennen.

Wir hatten einen schönen Tag im Grünen, mit wunderbaren Ausblicken auf die Olympic Mountains, die zwischen Seattle und dem Pazifik liegen, und auf Mount Rainier im Süden, der riesengroß, schneebedeckt und wie vom Boden gelöst im Süden über allem zu schweben scheint.
Eigentlich heißt der Berg bei den Einheimischen „Tahoma“, aber als Captain Georg Vancouver im späten 18 Jh. diesen Berg als erster Weißer sah, nannte er ihn kurzerhand nach seinem Freund Admiral Peter Rainier. Es würde mich interessieren, ob dieser Admiral Rainier dem Berg jemals nahe gekommen ist.

Toll ist, dass hier überall versucht wird, alle Plätze auch für Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen, sie bekommen unkompliziert Sondergenehmigungen, um an bestimmte Plätze mit dem Auto zu fahren, es wird aber auch darauf hingewiesen, welche Strecken und Orte für sie nicht oder nur schwer zugänglich sind und erklärt, weshalb es nicht möglich ist. Es gibt überall Rampen und Parkplätze und ganz selbstverständlich WCs, die NICHT verschlossen sind.

Zurück in der Stadt, lernten wir am Abend Beth kennen, eine feine Dame Anfang sechzig, sie saß in unserer „Lieblingskneipe“ am Nebentisch. Hier kommt man ganz leicht mit Menschen ins Gespräch und es ist dann nicht zäh und mühsam, sondern einfach nett. Es gab keinen Grund, Beth auf ihre Frage, was wir hier in Seattle tun, nicht die Geschichte unserer Weltreise zu erzählen. Sie war begeistert und wusste so unglaublich gut Bescheid über alle Länder auf der Seidenstraße, dass wir sie fragten, wann und wie oft sie denn schon dort unterwegs gewesen sei. Leider noch gar nie, aber es sei ihr Traum und sie lese eben viel darüber und verpasse keine Dokumentation und keinen Film zum Thema.

Ganz untypisch – jedenfalls wenn man unser immer noch existentes vorgefertigtes Bild von „den Amerikanern“ zugrunde legt – besitzt Beth kein Auto, geht viel zu Fuß („two miles are just nothing“) oder nützt den Public Transport, der allerdings seit vergangenem Herbst nicht mehr so ist wie früher. Bis vor einem halben Jahr konnte man im Innenstadtbereich umsonst die Stadtbusse nutzen und für Besucher gab es eine Art Mehrtages-Citypass mit diversen Vergünstigungen. Das alles gibt es seit kurzem nicht mehr, denn ein Politiker auf Stimmenfang versprach die Abschaffung einer bestimmten Steuer, die jedoch genau diese großzügigen Angebote der Stadt alimentierte. Seither ist das ganze System in einer Abwärtspirale: da nun kostenpflichtig, fahren weniger Leute mit dem Bus, und weil jetzt die Auslastung so gering ist, werden immer mehr Linien eingestellt usw. – ad absurdum.

Diese Praktik kennen wir bei uns auch: Etwas Wertvolles für Stadt, Bürger, Besucher und das Qualitätsklima der Stadt wird mutwillig zerstört, weil sich ein Politiker kurzsichtig und verantwortungslos mit seinen Versprechen einen persönlichen Vorteil verschafft. Unser Rezeptionist im Hotel bestätigt diese Geschichte in allen Einzelheiten.

Zum Schluss noch ein paar Sätze zu Dingen, die uns hier aufgefallen sind:

Radfahren
Es gibt in Seattle viele Radfahrer, nicht so viele wie in Freiburg, aber viel mehr als erwartet. Die Stadt ist viel hügeliger als Freiburg, die Straßen steigen oft unglaublich steil an. Hier sind auch die Polizisten per Rad unterwegs, dazu eine Art Securitydienst, meist recht stämmige Männer, die man eher nicht auf einem Rad vermutet. Sie fahren durch Parks und sensible Gegenden und schauen nach dem Rechten. Die großen Straßen haben alle breite und gut markierte Radstreifen, bei Einbahnstraßen sind die Radstreifen oft auf beiden Seiten angebracht.

Im Restaurant
Wenn man ins Restaurant geht, stürmt man hierzulande nicht auf den nächsten freien Platz oder Tisch, man bekommt ihn zugewiesen. „Please wait to be seated“. Wenn man das nicht kennt, mag man sich gegängelt vorkommen  – „warum darf ich mich nicht hinsetzen, wo ich will?!“ Aber das System ist ziemlich gut, jemand anderer übernimmt die Suche für uns, wir können ganz entspannt warten, im Vertrauen, dass der oder die Platzanweiserin einen guten Platz und gerecht in der Reihenfolge der Ankunft für uns besorgt. Alle sind gelöst, keiner regt sich auf oder geiert auf den Tisch am Fenster. Selbst wenn zehn oder fünfzehn Menschen vor uns sind, dauert es nicht lange, bis wir aufgerufen werden – natürlich mit dem Vornamen, wir sind in Amerika.

Das klappt immer und überall deshalb so reibungslos, weil der Durchlauf der Gäste sehr hoch und schnell ist. Und das ist die für uns Europäer dann etwas nervige Seite dieses Systems: sobald sich der Teller / das Glas leert, wird man gefragt, ob es noch etwas sein darf. Wenn man verneint, liegt auch sofort der „check“ die Rechnung auf dem Tisch mit der Bemerkung „take your time“, aber es bedeutet das genaue Gegenteil, dass man den Tisch nun zügig räumen sollte, denn da vorne am Eingang warten wieder acht oder zwanzig, die auch noch was essen wollen. Dann stehen wir Deutsche schon nach sehr kurzer Zeit wieder draußen auf der Straße und müssen überlegen, was wir mit dem Rest des Abends anfangen. Überall, wo man hingeht, wird man hinauskomplimentiert, sobald das Glas leer ist. Wenn man weiß, dass ein Bier um 6 $ und ein wirklich kleines Glas Wein mindestens 7 $, zuzüglich tax plus Trinkgeld dann 16 bis 17 Dollar kosten, wird man verstehen, dass das wirklich nicht ganz einfach ist.
Wir lernen bestimmt noch ein paar einheimische Tricks oder die richtigen Kneipen erkennen. Hoffentlich.

Genfood
In der schon erwähnten Lieblingskneipe hängt ein Plakat an der Tür „Businesses for Initiative 522 – Label genetically engineered Foods“. Wir waren geschockt, weil wir dachten, dass sogar dieses Lokal für Genfood wirbt. Aber die Internet-Recherche ergab, dass das Gegenteil der Fall ist, es wird für eine Kennzeichnungspflicht geworben. Zeigt, dass unser Englisch noch Lücken hat, und dass wir den „Amis“ erst mal wieder das Schlechte unterstellt hatten. So viel zum Thema Vorurteile und vorgefasste Meinungen.

Initiative Genfood Kennzeichnung

Was es kostet
Auf dem „Public Food Market“ an der Waterfront und in den Supermärkten werden hochwertige und hochpreisige Lebensmittel angeboten und auch gekauft, das Market-Areal ist immer voll, die Menschen stehen Schlange an den französischen, griechischen, italienischen, deutschen (bayrischen) Essständen und Spezialitätengeschäften. Das einheimische Obst wird wunderschön präsentiert und kostet mehr als bei uns, zumal ein amerikanisches Pfund nur etwa 450 Gramm wiegt. Da in diesem Land auch Obst und Gemüse viel größer sind als in Europa, ist man für 4 Nektarinen schnell 5 $ los.

Das einzige was uns bisher als sehr günstig auffiel, sind wunderschöne frische jahreszeitliche Blumensträuße, die dann entsprechend oft gekauft werden: in fast allen
Geschäften, Cafés, Restaurants, unserem Hotel stehen sie, immer frisch und man sieht ganz häufig Männer, Frauen, sogar Kinder mit einem eben erworbenen Blumenstrauß im Arm.
Mit Blumen können wir derzeit leider nicht so viel anfangen. Aber die Gelegenheit wäre günstig.

Abgesehen von dieser Ausnahme, erscheinen uns die Lebenshaltungskosten insgesamt recht hoch, was noch verstärkt wird durch die für uns mehr als gewöhnungsbedürftige Tatsache, dass nicht Endpreise angegeben werden, sondern man im Kopf fast überall noch ca. 9 % Steuer und im Restaurant noch einmal 15 bis 20 % Trinkgeld dazu rechnen muss. Man weiß also nie so genau, was kostentechnisch auf einen zukommt, wenn man einen Kauf erwägt.

Dasselbe gilt für den Non-Food-Sektor: es gibt viele Geschäfte, die sehr hochwertige Bekleidung anbieten. Das heißt, es gibt die Käufer dafür, und man sieht sie auch, die Geschäfte scheinen gut zu gehen. Eine Bluse, die mit 80 $ ausgezeichnet ist, kostet dann aber nicht achtzig, sondern knapp achtundachtzig Dollar.
Gleichzeitig kann man überall in den Straßen die vielen Menschen, die sich gar nichts mehr leisten können, nicht übersehen. Sie sind durch das Netz gefallen. Und es sind viel mehr als bei uns.

Lupita
Unsere Cleaning Lady heißt Guadalupe – „Lupita“ und wir sind uns schon richtig gegenseitig ans Herz gewachsen. Sie ist nun nicht mehr so verstört wie am Anfang, dass wir oft im Zimmer sind, wenn sie kommt. Wie sollten wir ihr auch erklären, weshalb wir in dieser tollen Stadt und bei diesem fabelhaften Wetter den ganzen Tag am Telefon oder am PC hängen? Wir werden jetzt umarmt, sie redet munter auf Spanisch, leider können wir ihr da nur begrenzt folgen. Wir haben aber verstanden, dass sie nicht nach Hause kann, die Familie besuchen, weil sie „sin papeles“ ist, ohne Papiere.

Da kommen uns die eigenen Sorgen eher klein vor. Und ich schaue mich mit neuen Augen in unserem Zimmer um: Nescafé, Kekse, Saft, Zigaretten, unsere mitgebrachten persönlichen Dinge, die Pflegemittel im Bad und vieles mehr. Für uns selbstverständlich, wir geben keinen Gedanken daran, aber alle diese Sachen kosten für sie wahrscheinlich ein Vermögen. Und sie muss täglich damit umgehen. Die Gäste reisen ab, in alle Welt, und sie kann nicht einmal auf Besuch nach Hause.

Beim Auschecken an der Rezeption sagen wir, wie gut sie für uns gesorgt hat in den zwei Wochen. Die Leute dort sind ebenfalls sehr sympathisch und immer hilfsbereit. Sie  erzählen uns, wieviel „crap“/ „Mist“ die Putzfrauen in ihrem Arbeitsalltag zu sehen bekommen. Das können wir uns schon denken, Busfahrer bekommen auch so einiges mit.

Tattoos
Viele Menschen sind hier stark tätowiert, die Frauen stehen den Männern in nichts nach, sie sind geschmückt an Armen, Beinen, im Genick, in der Achselhöhle! Jeder Quadratmillimeter scheint gefärbt.
Inzwischen hatte ich im Hafen von Tacoma in der Autowerkstatt die Gelegenheit, einen sympathischen Mechaniker Anfang dreißig nach den Tattoos zu fragen. Er trug einen Arbeitsoverall mit aufgekrempelten Ärmeln, beide Unterarme schwer tätowiert. Die Tattoos sind bleibend, nicht abwaschbar. Um meine Neugier, mein Interesse zu erklären, sagte ich ihm, dass es für uns ungewöhnlich sei, so viele tätowierte Menschen zu sehen, in Deutschland sei das bei weitem nicht so verbreitet wie hier. Das fand er wiederum merkwürdig. „Oh? Ist that so?! – Well, I have them all over“ und macht eine umfassende Bewegung um und über seinen ganzen Körper. Wie kann man sich so etwas antun? Man ist fürs Leben gezeichnet, das ist nicht wieder rückgängig zu machen. Und bald sieht es vielleicht auch nicht mehr so gut aus. Aber das alles traue ich mich nicht zu sagen. Um unserem Gespräch dennoch einen Abschluss zu geben, frage ich eher etwas hilflos, dass das doch furchtbar weh tun muss? „It hurts like hell – but it’s a good hurt!“

One comment to Nachtrag Seattle

  1. Friderun-Estella Korthaus sagt:

    Liebe Ina, lieber Hans-Peter,
    danke, dass Ihr uns im Blog und im Rundbrief mitfahren lasst.
    So haben wir hier nichts verpasst
    von dem, was Ihr liebt,
    und auch nichts von dem, was Euch betrübt…
    Wir wünschen weiter guten Mut!!
    (Im übrigen: Auch dieser Bus, der steht H-P gut!)

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